(Foto: Massart Tribe Photography)
Matthias Belitz, Bereichsleiter Nachhaltigkeit, Energie und Klimaschutz im VCI
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Klimaschutz geht nur mit der Chemie Matthias Belitz (VCI) über Herausforderungen, Transformationswille und die Bedeutung des Recyclings

Die chemisch-pharmazeutische Industrie nimmt in Deutschland als drittgrößter Zweig einen wirtschaftlich bedeutenden Stellenwert ein. Hinter fast allen Produkten stecken traditionsreiche Unternehmen wie BASF, Evonik, Bayer, Henkel oder Merck. Als eine der Schlüsselindustrien versorgt sie andere Branchen mit wichtigen Vorprodukten und treibt Recyclingverfahren und Technologien mit ihren Partnern erfolgreich voran. Denn die energieintensive Branche ist sich auch ihrer Verantwortung hinsichtlich Klimaschutz bewusst. Dafür muss die Industrie aber wettbewerbsfähig bleiben und die Transformationen nicht auf Kosten von Arbeitsplätzen vollziehen. Ein Spagat mit vielen Herausforderungen.

Im Verband der Chemischen Industrie e.V. (VCI) kommen Partner, Zulieferer und Produzenten der Branche im Netzwerk zusammen und pflegen hier den Ideenaustausch. Als Interessenvertreter der chemischen Industrie in Deutschland ist der VCI auf europäischer sowie auf Bundesebene aktiv und kommuniziert regelmäßig mit der Politik, den Behörden und den Medien. Sonderabfallwissen hat mit Matthias Belitz, Bereichsleiter Nachhaltigkeit, Energie und Klimaschutz im VCI, über die Zukunft und die Herausforderungen der Branche gesprochen.

Herr Belitz, die Chemieindustrie steht derzeit vor einer Menge Herausforderungen: Teure Energie und Rohstoffe, Umsatzeinbruch und hohe Arbeitskosten. Wie ist das für die Branche zu bewerkstelligen?

Matthias Belitz: Viele Unternehmen stehen aktuell ohne Zweifel vor großen Herausforderungen. Die Unternehmen und ihre Mitarbeiter reagieren darauf wie schon immer auf schwierige Situationen: Die Ärmel werden ganz weit hochgekrempelt. Alle Winkel der Unternehmen werden auch noch nach den letzten Effizienzpotenzialen durchleuchtet. Innovationen werden nach Möglichkeit vorgezogen, Umstrukturierungen vorgenommen. Leider gab es auch schon vereinzelte Schließungen von Produktionsanlagen. Aber: Bange machen gilt nicht, die schwierige Lage darf nicht lähmen. Unsere Branche kann Krise. Die Unternehmen sind seit Jahren auf den bevorstehenden fundamentalen Wandel gepolt.

Und eins ist sicher: Die Märkte der Zukunft setzen voll auf Chemie- und Pharmaprodukte. Beim Erhalt der Gesundheit der immer älter werdenden Gesellschaften. Bei der Elektromobilität, der Digitalisierung und der Landwirtschaft der Zukunft. Und auch von der EU definierte Schlüsseltechnologien wie Halbleiter oder Biotechnologie setzen auf Know-how aus unserer Industrie. Jetzt muss die Politik alles daransetzen, dass diese Nachfrage auch in Zukunft aus deutscher Produktion bedient werden kann.

Ethylen und Propylen, Chlor, Ammoniak und viele weitere Stoffe sind für fast alle anderen Industriebranchen die Basis ihrer Produktion. Wenn die Chemiebranche unter wirtschaftlichen Einbrüchen leidet, hängen viele andere daran. Was kann der VCI leisten, um diese Problematik in die Öffentlichkeit zu tragen?

Matthias Belitz: Die Energiekrise war hier ein Augenöffner. In der sehr intensiv geführten Debatte um ein kurzfristiges Gasembargo gegen Russland konnten wir zeigen, wie wichtig unsere energieintensiven Produkte sind. Die gesamte Industrieproduktion hängt an den Vorleistungen der 1.900 Chemieunternehmen, die der Anfang vieler Wertschöpfungsketten sind. Etwa 95 Prozent der in Deutschland hergestellten Produkte benötigen im Entstehungsprozess Chemie. Unsere Lösungen sind häufig nicht direkt sichtbar, aber unverzichtbar.

Auch außerhalb der Krise weisen wir natürlich mit allen Mitteln unserer Presse- und Öffentlichkeitsarbeit auf diese Zusammenhänge hin. Wie das aber öfter so ist: Die Bedeutung von Dingen, die normalerweise verfügbar sind, erkennt man manchmal erst, wenn sie fehlen. Insofern hat das Fehlen einzelner chemischer Grundstoffe ihre Alltagsrelevanz aufgezeigt. Etwa, als plötzlich das Abgasreinigungsmittel AdBlue nicht mehr verfügbar war. Dadurch konnten einige Dieselfahrzeuge wie LKW, Schiffe oder Baumaschinen nicht mehr genutzt werden. Für die Herstellung von AdBlue wird Ammoniak benötigt und dessen Produktion lohnte sich in Deutschland aufgrund der hohen Gaspreise nicht mehr.

Bis 2022 hat die Chemieindustrie ihren Ausstoß von Treibhausgasen um unglaubliche 55 Prozent zurückgefahren; den Energieverbrauch um 22 Prozent – trotz Steigerung der Produktion. Wie ist das gelungen?

Matthias Belitz: In diesen Zahlen verstecken sich sowohl Verbesserungen bei den energie-, als auch bei den prozessbedingten Emissionen. Insgesamt konnte unsere Branche über moderne Katalysator-Technologien beispielsweise ihre Lachgas-Emissionen von 1990 bis heute um etwa 98 Prozent verringern.

Die CO2-Reduktion erfolgte im Wesentlichen durch allgemeine Effizienzsteigerungen – das sind die 22 Prozent Energieverbrauchsminderung. Dazu kommen Einsparungen in der Energiebereitstellung (Dampf und Strom) durch den Brennstoffwechsel von (Braun)Kohle zu Erdgas bei den Kraft-Wärme-Kopplungs-Anlagen.

Was sind die größten Klima-Stellschrauben, die in der Branche bereits umgesetzt wurden? Und wo könnten die Unternehmen noch Änderungen einführen?

Matthias Belitz: Im Bereich des Energieeinsatzes für die Prozesse war bisher die größte Stellschraube die Effizienzsteigerung bei den Prozessen. So konnte der Energieverbrauch insgesamt deutlich gesenkt werden. Zudem ist die Energieversorgung CO2-ärmer geworden. In Zukunft muss die verwendete Energie weiter dekarbonisiert und sukzessive auf erneuerbare und damit treibhausgasneutrale Energieträger umgestellt werden. Das wird insbesondere die Elektrifizierung mit Grünstrom sein.

Außerdem brauchen wir die Abkehr von unserer fossilen Rohstoffbasis. In einer Kreislaufwirtschaft geht es im Wesentlichen um die vollständige Kreislaufführung von Kohlenstoff, sodass kein zusätzlicher Kohlenstoff mehr über CO2 in die Atmosphäre gelangt. Diese Kreislaufführung wird auf drei wesentlichen Säulen beruhen: Recycling von Chemieprodukten (im Wesentlichen Kunststoffen), Einsatz von Biomasse und Nutzung von CO2 als Kohlenstoffquelle.

Ihr Verband sagt selbst, vor allem Recycling ist der Schlüssel zum Klimaschutz. Was ist in diesem Bereich in den letzten Jahren passiert?

Matthias Belitz: Ja, Recycling im Allgemeinen wird ein Schlüssel, eine wichtige Säule für den Klimaschutz sein. Dabei muss das heute schon in steigendem Maße praktizierte mechanische Recycling durch ein chemisches Recycling ergänzt werden, um auch den Kohlenstoff aus den Abfallmengen zurückzugewinnen, der nicht mechanisch recycelt werden kann.

Die Unternehmen der Chemieindustrie stehen in den Startlöchern, massiv in die verschiedenen chemischen Recyclingverfahren zu investieren, um sie zu skalieren. Das Know-how ist da. Was wir brauchen, ist eine vollumfängliche Anerkennung der Verfahren auf Recyclingquoten. Hier und da knarzt es dabei noch gehörig in der Politik, auch wenn der Weg eigentlich frei gemacht werden soll. Stichwort: Massenbilanzen. Wir brauchen eine Anrechnungsmethode, die reale Gegebenheiten im Recyclingprozess widerspiegelt. Das haben noch nicht alle verstanden. Die Diskussion darum verdient ein eigenes Interview.

Nehmen wir an, Sie dürften einen Wunschzettel schreiben: Was braucht die Branche jetzt und von wem?

Matthias Belitz: Wir benötigen dringend eine wirtschaftspolitische Neuausrichtung. Nur an einem attraktiven Wirtschaftsstandort werden clevere Lösungen für die Herausforderungen der Transformation entwickelt und Wohlstand generiert. Konkret brauchen wir:

  • Wettbewerbsfähige Strompreise. Dazu sind kosteneffiziente Lösungen für den Ausbau von Kraftwerksreserven und des Netzes elementar.
  • Bürokratieabbau, um Ressourcen für echte Wertschöpfung freizusetzen.
  • Das Flankieren des Green Deals durch einen Industrial Deal. Die Wettbewerbsfähigkeit muss wieder einen höheren Stellenwert einnehmen.
  • Modernisierung des Steuerrechtes
  • Investitionen in Bildung, Sicherheit sowie eine leistungsfähige Infrastruktur

Herzlichen Dank für das Gespräch.

Quellen

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